top of page

Layers/Warstwy – Konrad Dobrucki, Gunilla Wallertz & Petra Zürcher


Konrad Dobrucki wirft mit seiner Bilderreihe Layers/Warstwy die Frage nach dem materiellen Aspekt von Kultur und deren Erhalt auf und dokumentiert dies anhand von Statuen, Monumenten und Denkmälern, die in der Ukraine vor den Kriegsgeschehnissen geschützt werden. Er zeigt auf eindrückliche Art und Weise, wie die eigene Identifikation¹ immer wieder aufs Neue verhandelt wird und Hoffnung und Vernichtung eng miteinander verwoben sind.

Die im Frühjahr und Sommer 2022 entstandenen Bilder zeugen von einem Krieg, der unter anderem durch die Verneinung einer eigenständigen ukrainischen Nation legitimiert wird und mit dem kulturellen Auslöschen alles „Ukrainischen“ droht. In diesem Kontext kommt der Aufbewahrung und dem Schutz von kulturellem Erbe eine essentielle Rolle zu. Dabei ist Denkmal nicht gleich Denkmal: Seit Jahren schon wird in der Ukraine diskutiert, wie mit dem historischen kulturellen Erbe im öffentlichen Raum umzugehen sei, das kulturelle und politische Hegemonialität repräsentiert. Nachdem etwa die Lenin-Statue auf dem Majdan Nezaležnosti bereits in den 90er-Jahren nach Studierendenprotesten den Platz räumen musste, wurden einige Monumente aus der Sowjetzeit im Zuge der „Dekommunisierungspolitik“ von offizieller Hand entfernt. Die Daseinsberechtigung von umstrittenen Monumenten wie der Statue der russischen Zarin Katharina II. in Odesa wiederum wurde durch künstlerische Interventionen in Frage gestellt.² Denkmäler sind aber mehr als nur Symbole der Okkupation durch fremde Mächte oder Erinnerung an vergangene Ereignisse: Sie werden durch sich wandelnde Umstände ständig mit neuen Werten und neuer Bedeutung aufgeladen und erhalten dadurch immer auch eine zeitgenössische Dimension. Anhand von Denkmälern wird demnach der Umgang mit historischem Erbe verhandelt. Dies geschieht nun auch im Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine: Während einige Denkmäler aus der Öffentlichkeit verschwinden, werden andere sorgsam eingepackt und geschützt. Bei wieder anderen scheint das Abdecken auf den Entzug der öffentlichen Präsenz zu zielen.


Im folgenden Essay wird eine Auswahl von Konrad Dobruckis Bildern beschrieben, historisch kontextualisiert und frei interpretiert.



Denkmal von Taras Ševčenko

Borodjanka, Ukraine


Taras Ševčenko steht mit einem Kopfschuss da und blutet nicht. Die ihm zuvor notgedrungen an die Stirn gepresste Bandage hängt ihm kläglich über die Schulter hinab und verflüchtigt sich in seinen entblössten Innereien. Vornübergebeugt scheint der Lyriker angestrengt darum bemüht, seine Haltung zu wahren, ja man möchte fast behaupten, er werde von einem ihm gegenüberstehenden Etwas gezwungen, sich zu verbeugen. Was ist ihm auf das Gesicht geschrieben? Ist es Widerwillen, Wut, Schmerz, Scham, Trauer? Für tot erklären kann man ihn nicht, aber alleine, alleine ist er dennoch. Zumindest auf diesem menschenleeren Platz in einer kleinen Stadt nordwestlich von Kyiv. Ist denn niemand mehr da? Wo sind alle? Wo ist die Person, die Taras Ševčenko seine Wunde zugefügt hat? Wo die Hände, die den Lyriker vor dem Ausbluten bewahren wollten? Ist das die Ruhe nach dem Sturm?


Was William Shakespeare für England ist, ist Taras Ševčenko für die Ukraine. Der Lyriker und Maler gilt als einer der „Gründungsväter“ der ukrainischen Nation und Sprache und ist bekannt für seinen Aktivismus gegen die Unterdrückung durch den russischen Zaren. Mit seinen Werken rief er seine Leserschaft zum Widerstand gegen die Repression auf, wandte sich gegen die durch die zaristische Unterjochung verursachte soziale Apathie und machte auf die historische Vergangenheit der Ukraine aufmerksam. So ist sein Beitrag zur ukrainischen Literatur heute aktueller denn je. Denn obwohl der Taras Ševčenko aus Fleisch und Blut seit über 160 Jahren tot ist, lebt derjenige aus Stahl, Buchstaben und Gedanken in ukrainischen Schulen, Wohnzimmern und Herzen bis heute weiter. Die Kugel hat also nicht nur eine Statue getroffen, sondern ist tief in die ukrainische Seele eingedrungen.



Denkmal für Jaroslaw den Weisen

Kyiv, Ukraine


An dem Platz, an dem normalerweise Jaroslaw der Weise, von 1019 bis 1054 Grossfürst von Kyiv, sitzt und ein kleines Modell der ursprünglichen Sophienkathedrale in den Himmel streckt, steht nun eine Burg aus Äpfeln. Erhaben türmt sie sich auf, undurchdringbar. Das Bild erinnert an das Bühnenbild eines Schultheaters oder an einen Kinderspielplatz. Doch hier fallen keine Plastikpfeile vom Himmel, es kommt kein Steckenpferd von rechts auf die Bühne geritten, es gibt keine Generalprobe und auch keine zweite Vorstellung. Denn in Wahrheit wurde hier der Schauplatz für ein Drama vorbereitet, auf welches nun nur noch gewartet werden muss.


Das Goldene Tor von Kyiv, welches im Hintergrund zu sehen ist und einst von Jaroslaw dem Weisen in Auftrag gegeben wurde, zeugt von der Geschichtsträchtigkeit dieses Ortes und steht hier sinnbildlich für die lange und vor allem komplizierte Geschichte der Ukraine, wie wir sie heute kennen. Erste Spuren finden sich bereits im 9. Jahrhundert in der Kyiver Rus’, einem multiethnischen Herrschaftsgebilde, welches sich über Teile mehrerer heutiger Staaten in Osteuropa erstreckte. Es folgten Jahrhunderte des Auseinanderbrechens und Zusammenfindens, des Unterdrückt-Seins und Unabhängig-Werdens, des Leidens und des Triumphs. Erst 1991 wurde aus der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR) die heutige Ukraine. Es benötigte also eines Jahrtausends, bis sich der heutige ukrainische Staat für vollständig unabhängig erklären konnte.


Die Verhüllung Jaroslaws ist eines der vielen Beispiele, die zeigen, wie einem Denkmal neuer Ausdruck verliehen werden kann. Das Konstrukt aus Holz ist um einiges eindrücklicher als die Statue selbst und vermengt auf skurrile Art und Weise die Vergangenheit mit der Gegenwart: Das historische Stadttor trifft auf mit Äpfeln bemalte Holzbretter. Natürlich kann nun behauptet werden, man habe mit den Materialien gearbeitet, die gerade zur Verfügung standen, aber die Sorgfalt, mit der die Früchte angeordnet wurden, lässt auf das Werk eines künstlerischen Geistes hoffen. Der Gedanke, dass in Zeiten der Brutalität, der Entbehrung und des Verlustes noch immer die Energie und der Wille dazu aufgebracht werden kann, etwas Kreatives zu erschaffen, ist irgendwie schön.



Bohdan-Chmel’nyc’kyj-Denkmal

Kyiv, Ukraine

Abgeschirmt von jeglichen Blicken sitzt der einstige Hetman Bohdan Chmel’nyc’kyj in einem dunklen Käfig und wartet. Dabei zählt er zu den wichtigsten Persönlichkeiten für die ukrainische Geschichte und ist längst zu einer schillernden Ikone aufgestiegen. Besonders bekannt ist Bohdan Chmel’nyc’kyj für den von ihm angeführten Aufstand 1648 gegen die Unterdrückung durch Polen-Litauen, sowie für die Versammlung von Perejaslav 1654, in deren Folge die Kosaken unter der Führung von Chmel'nyc'kyi unter die Herrschaft des Moskauer Zartums gelangte und dadurch ihre Autonomie sichern konnte. Viele Mythen ranken sich um das Kosakentum in der Ukraine, womit Werte wie Freiheit, Solidarität und Gleichheit verbunden werden. Mythen waren zu Beginn der 1990er-Jahre zentral für die Stiftung einer kollektiven ukrainischen Identifikation, hatte das Land doch gerade erst die Unabhängigkeit erlangt. Diente das Kosakentum damals als Integrationsideologie mit konkretem Vorbildcharakter für Staat und Gesellschaft, sind die Mythen heute zwar nur noch vage, jedoch immer noch wirkungsmächtig.


Das knapp elf Meter hohe Denkmal aus Bronze steht seit 1988 in Kyiv und gilt als eines der Wahrzeichen der Stadt. Das Projekt musste allerdings immer wieder abgeändert und die Enthüllung verschoben werden; mal war das Motiv zu chauvinistisch, mal fehlte das Geld. Schliesslich liess man den Hetman, mitfinanziert durch die russische Marine, in St. Petersburg in einem Schmelztiegel wieder zum Leben erwecken. Von der Strahlkraft Bohdan Chmel’nyc’kyjs ist heute nicht mehr viel zu sehen. Sorgfältig in eine Art Baugerüst eingepackt, könnte man meinen, das Denkmal befände sich erneut im Umbau. Dient der Sichtschutz auch dazu, die Interpretation der eigenen Geschichte zu überdenken? Welche Rolle wird das Denkmal in Zukunft spielen, hat sich der Hetman doch einst freiwillig dem russischen Zaren unterstellt? Diskussionen darüber, wie man mit dem eigenen historischen und kulturellen Erbe umgehen soll, gibt es derzeit in der ganzen Ukraine. Ob es jemals abschliessende Antworten darauf geben wird, ist wohl erst in einigen Jahren zu sagen.



Bogen der Völkerfreundschaft

Kyiv, Ukraine


Auf einer Anhöhe im Chreščatij-Park in Kyiv thront ein gewaltiger Bogen aus Titan. Er ist Teil eines sowjetischen Denkmalkomplexes aus dem Jahr 1982, der einst die Freundschaft und Verbundenheit des russischen und des ukrainischen „Brudervolkes“ repräsentieren sollte. Aus russischer Perspektive nahm dabei das ukrainische Volk stets die Rolle des „kleinen Bruders“ ein. Eine mittig unter dem Bogen platzierte Bronzeskulptur bestehend aus figürlichen Repräsentationen der beiden „Brudervölker“ in Form eines russischen und eines ukrainischen Arbeiters, die den sowjetischen Freundschaftsorden halten, verdeutlichte dieses propagandistische Narrativ. Als drittes Element erinnert das in Granit gehauene Perejaslav-Denkmal an den 1654 geschlossenen Vertrag zwischen dem Kosakenführer Bohdan Chmel'nyc'kyj und dem russischen Zaren. Das Weiterbestehen dieses höchst symbolischen Denkmalkomplexes war spätestens seit der russischen Annexion der Krim 2014 und dem Konflikt im Donbas heftig umstritten. Mehrmals kam es zu künstlerischen Interventionen: Auf dem Foto nicht zu sehen ist etwa der Riss, den Aktivist:innen im Jahre 2018 dem Bogen aufmalten, um auf die politische Gefangenschaft von ukrainischen Bürger:innen in Russland aufmerksam zu machen.³ Es verwundert also wenig, dass die Skulptur der beiden Arbeiter kurz nach dem russischen Einmarsch 2022 auf Geheiss der Stadtregierung demontiert und der Bogen im Mai desselben Jahres zum „Bogen der Freiheit des ukrainischen Volkes“ umbenannt wurde.


Um das Perejaslav-Denkmal hingegen baute man, wie hier in der Bildmitte zu erkennen, eine Kiste aus Sperrholz, wodurch es dem betrachtenden Auge vorenthalten wird. Dadurch wird der ehemalige Erinnerungsort visuell neutralisiert, einzig der Bogen bleibt als Anhaltspunkt. Gerade weil es sich um ein hochsymbolisches Denkmal handelt, stellt sich die Frage, aus welchem Grund das Perejaslav-Denkmal abgedeckt wurde. Soll es aus dem Stadtbild verschwinden, später auch demontiert werden? Oder wurde die Skulptur, die immerhin den für die ukrainischen Nationalmythen derart wichtigen Kosakenhetman darstellt, als schützenswertes Kulturgut eingestuft und deshalb eingepackt?

Der Umgang mit den drei Teilen dieses Denkmalkomplexes zeigt auf, wie unterschiedlich in der heutigen Ukraine mit dem sowjetischen Kulturerbe umgegangen wird. Gewisse Relikte der Vergangenheit werden aus der Öffentlichkeit entfernt, andere wiederum werden umgedeutet und in neue identitätsstiftende Narrative eingebettet. Sie bleiben Monumente, nur die sie umgebende Erzählung hat sich verändert. Ohne die figürlichen Skulpturen gewinnt der im Grunde abstrakte Bogen jedenfalls an Universalität und kann dadurch zur Leinwand für neue Bedeutungsgebungen werden.



Peter-Sahaidachny-Denkmal

Kyiv, Ukraine


Ein Mann mit Hut, Bart und wild gewordenen Augen streckt kampfbereit die rechte Hand in die Luft. Man möchte fast meinen, Peter Sahaidachny habe es nicht gepasst, eingepackt zu werden, als hätte er sich wieder aus den ihm Schutz bietenden Sandsäcken herausgegraben, um die Heeresführung ein letztes Mal zu übernehmen. Sand blutet aus seinen zahlreichen Schusswunden, was ihn und die Kreatur, auf der er reitet, aber nicht davon abhält, mit voller Entschlossenheit voranzupreschen.


Wie schon bei Jaroslaw dem Weisen wirkt Peter Sahaidachny eingepackt noch eindrücklicher als in seinem ursprünglichen Zustand. Die Leiter, die noch immer an das Monument angelehnt ist, wirft allerdings verschiedene Fragen auf: Ging den Menschen, die den ehemaligen Hetman der Saporoger Kosaken schützen wollten, die Zeit aus? Sind sie sich noch nicht sicher, welchem Schicksal sie Sahaidachny überlassen wollen? Droht ihm, vollständig unter dem Sandberg zu versinken, oder wird er doch noch freigelassen, um sich aufs Schlachtfeld zu stürzen? Oder ist man zuversichtlich, den Schutzmantel bald wieder abbauen zu können, weil keine Gefahr mehr droht?


Es braucht viel Vorstellungsvermögen, um zu glauben, Peter Sahaidachny reite auf diesem wilden Tier tatsächlich davon. In Wirklichkeit kann er sich nicht bewegen. Auf einem Steinbrocken festgeschraubt ist er dazu bestimmt, still zu halten und von Menschenaugen betrachtet zu werden. Wurde er gerade deshalb nicht vollständig zugedeckt? Ist er noch immer da, um den Menschen Mut, Kraft und Stolz zu vermitteln und sie an ihren Kampfgeist zu erinnern? Stellt die vermeintliche Vulnerabilität dieser unvollständigen Verhüllung in Wirklichkeit das Gegenteil dar?



Denkmal von Hryhoriy Skovoroda

Kyiv, Ukraine


Etwas verlassen, als würde es hinter Gitterstäben hervorlugen, so wirkt das in Bronze gegossene Gesicht Hryhoriy Skovorodas. Der Denker kosakischer Herkunft, der im 18. Jahrhundert im russischen Zarenreich umherpilgerte, beeinflusste mit seinen Lehren sowohl die ukrainische als auch die russische moderne Philosophie massgeblich. Bis heute wird deswegen darum gestritten, wer rechtmässigen Anspruch auf den wandernden Denker erheben darf. Die Person, welche die ukrainische Flagge ins Gerüst gesteckt hat, scheint diesbezüglich jedenfalls eine klare Ansicht zu vertreten.


Das notdürftige Gerüst aus Metallstangen und Holzplatten wirkt provisorisch, dadurch wird die Statue nicht gänzlich abgedeckt und Skovoroda ist weiterhin identifizierbar. Konrad Dobrucki zeigte sich fasziniert von diesen „Imperfektionen“ in den Bildern: „There is this form that is layered on top of the sculpture, it does not really fit, it does not look like it is protecting in case something happens, there is this feeling of helplessness.“ („Da ist diese Form, die sich über die Skulptur stülpt, sie passt nicht richtig, es schaut nicht so aus, als würde sie schützen, sollte etwas passieren, da ist dieses Gefühl von Hilflosigkeit“, übersetzt durch die Autorinnen).



Figur von Samson im Kampf mit dem Löwen

Kyiv, Ukraine


Dobruckis Worte schwingen auch beim Anblick des folgenden Bildes mit. Denn obwohl sich hier auf den ersten Blick ein Bollwerk von Sandsäcken unter einer massiven Kuppel präsentiert, erkennt man beim genaueren Hinschauen das ungeschützte Haupt einer Figur, die nur durch den Bildtitel als Samson identifizierbar ist. Die Statue zeigt den israelitischen Helden aus dem Alten Testament im Kampf mit einem Löwen. Begraben unter den schweren Säcken strahlt der unscheinbare Held nun eine Verletzlichkeit aus, die mit der monumentalen Bildsprache kontrastiert. Er wirkt gefangen unter der Last des Berges aus Sandsäcken, die zum Schutz intendierten Gebäudemauern um ihn herum drohen zur Falle zu werden, sollten sie einstürzen.

Die wenig sorgsam aufgeschichtete Konstruktion zeugt von Zeitdruck, zugleich scheint eine gewisse Absicht in der unvollständigen Abdeckung mitzuschwingen: Immerhin werden die Passant*innen dadurch an den biblischen Helden erinnert, der im Kampf gegen die übermächtigen Philister als unbesiegbar galt und einst einen Löwen mit blossen Händen in Stücke gerissen haben soll.



Skulptur von Amor & Psyche

Odesa, Ukraine


Eine Kiste steht mit Sandsäcken befestigt in einem Park in der Hafenstadt Odesa. Sie erinnert an einen mit weissen Blumen geschmückten Grabstein, der alleine auf einem alten Friedhof steht. Unter der Kiste findet sich allerdings nicht der Tod, sondern Amor, Gott der Liebe, und die sterbliche Königstochter Psyche. Wären die beiden nicht in der Dunkelheit gefangen, könnte man sehen, wie das Liebespaar in einer innigen Umarmung auf einem mit Ziegenköpfen verzierten Sockel steht. Amor streicht seiner Geliebten sanft mit der rechten Hand über die linke Wange, Psyche schlingt ihren linken Arm um den Oberkörper des Gottes.


Die kleine unscheinbare Statue hat auf den ersten Blick nichts mit einem ukrainischen Selbstverständnis zu tun, sie bildet keinen tapferen Heerführer oder Verfechter der ukrainischen Sprache ab, sondern beschränkt sich auf den Ausdruck von Liebe, Zärtlichkeit und Schönheit. Könnte es also sein, dass die Statue von Anwohner:innen oder Parkbesucher:innen abgedeckt wurde, um deren Schönheit vor der erwarteten Zerstörung zu schützen? Die Geschichte von Amor und Psyche enthält allerdings ein wichtiges Detail: Am Ende wird Psyche, nach dem Bestehen schwieriger Aufgaben, zu den Unsterblichen aufgenommen und ist somit für immer mit Amor vereint. Geht es also nicht nur darum, die eigene Identifikation zu schützen, sondern auch darum, etwas Schönes für die Ewigkeit zu erhalten, etwas, das die Brutalität des Krieges vergessen lässt? Geht es darum, hoffnungsvoll auf die Rückkehr geliebter Angehöriger zu warten, um diese endlich wieder in die Arme schliessen zu können? Oder stellt Psyche eine Metapher für die Ukraine dar, die nach einer unerreichbar scheinenden Aufgabe zu den Unsterblichen aufsteigen wird?



Denkmal von Volodymyr I.

Kyiv, Ukraine


Stolz thront Volodymyr I. über Kyiv. Die Statue, die als ein Wahrzeichen der ukrainischen Hauptstadt seit 170 Jahren über den Dnipro wacht, strahlt Stärke und Erhabenheit aus. Sie hat der Kamera, mit der sie die weitläufige Aussicht über Kyiv teilt, den Rücken zugewandt. Wie klein man sich neben dem riesigen Monument des Stadtpatrons fühlen muss, ist aus dieser Perspektive nur schwer nachvollziehbar.


Beim Gerüst um den Sockel der Statue von Volodymyr I. kann bemängelt werden, dass es im Ernstfall einer Demolierung des Denkmals wenig entgegensetzen könnte. Doch scheinen bei dieser professionell in Stoff eingepackten Konstruktion neben dem Schutz der 1853 eingeweihten Statue auch ästhetische Absichten im Zentrum zu stehen. Die gezeichneten Umrisse der abgedeckten Figur und der Text auf der Ummantelung erinnern an Ausstellungen von Kunst im öffentlichen Raum.

Bei dieser Abdeckung handelt es sich um ein Exemplar eines von der Kyiver Stadtverwaltung in Auftrag gegebene standardisierte Schutzsystems, das 2022 von einem Team von Architekt:innen entwickelt wurde. Diese veröffentlichten im Internet zudem Dokumentationen des Projekts und auch Anleitungen, um Anwohner:innen und Freiwilligen den Bau eigener Schutzvorrichtungen zu erleichtern. Tatsächlich hat das Projekt auch einen ästhetischen Anspruch: Nachahmende werden angewiesen, die Fassaden in Grau- und Olivtönen zu bemalen, die es den Konstruktionen erlauben würden, sich optisch „harmonisch“ ins Stadtbild einzufügen. Die Umrisse und Eckdaten des Monuments auf der Abdeckung sowie ein QR-Code, der auf die entsprechende Wikipedia-Seite verweist, zeugen zudem vom dokumentarischen Zweck des Schutzsystems. Dadurch soll auch sichergestellt werden, dass die Denkmäler trotz der Abdeckung weiterhin im Stadtraum identifizierbar und damit präsent bleiben.


Der im 10. und 11. Jahrhundert regierende Volodymyr I., der als Grossfürst von Kyiv die Christianisierung der Kyiver Rus’ einläutete, nimmt eine zentrale Rolle in der ukrainischen, russischen und belarussischen nationalen Geschichtsschreibung ein. In Zeiten, in denen befürchtet wird, dass ukrainische kulturelle Identifikationen von Russland geschluckt werden, scheint es besonders wichtig, eine Figur wie Volodymyr I. als Stadtpatron von Kyiv zu ehren. Vielleicht spendet die Statue, die geduldig darauf wartet, wieder ausgepackt zu werden, der Kyiver Bevölkerung tatsächlich etwas Hoffnung.



Denkmal von Taras Ševčenko

Borodjanka, Ukraine

Diese Rückenansicht der Statue von Taras Ševčenko aus Borodjanka macht das sichtbar, was uns im eingangs beschriebenen Bild verborgen blieb. Mit seinem dunklen Hintergrund wirkt das Bild laut Konrad Dobrucki wie ein „visuelles Negativ“: Im Hintergrund der Büste, die beim nächsten Windstoss von ihrem Sockel zu fallen droht, zeigen sich zerstörte Wohnhäuser, unbewohnbare Ruinen, die uns mit der gewaltvollen Realität des Krieges konfrontieren. Die schwarzen Fensterlöcher in den ausgebrannten Fassaden machen einem schmerzlich bewusst, dass nicht nur kulturelle Monumente schwerlich vor einer Bombardierung in Sicherheit gebracht werden können. Die Kleinstadt Borodjanka, in der dieses Bild entstanden ist, wurde im Frühling 2022 durch russische Bombenangriffe zu grossen Teilen zerstört und machte wegen der dort verübten Massaker an Zivilpersonen international Schlagzeilen. Die meisten Bilder aus der Reihe zeugen von den Bemühungen, mit welchen Denkmäler fernab der Frontlinien auf den erwarteten Beschuss vorbereitet wurden. Hier aber richtet sich die Kamera auf einen Schauplatz des Krieges, wo keine Zeit blieb für den Schutz von Kulturgütern. Uns wird ein von Gewalt gezeichnetes Stadtbild gezeigt, wie es seit spätestens anderthalb Jahren die Lebensrealität von Menschen in der Ukraine prägt.

Die von Konrad Dobrucki dokumentierten, abgedeckten Kulturstätten drücken ein Warten auf friedliche Zeiten aus, gleichzeitig zeugen sie von den Schrecken des Krieges. Die Bilder bewegen sich zwischen Hoffnung und Ohnmacht, zwischen Widerstand und Zerstörung, zwischen Anonymität und Identitätsstiftung, zwischen abstrakter Formsprache und politischer Dringlichkeit. Verhüllte Denkmäler, welche die Stadtbewohner:innen unmittelbar und tagtäglich an den Krieg erinnern, treffen auf ein Mahnmal, das einem schlagartig die geschehene und bevorstehende Gewalt vergegenwärtigt. Angesprochen auf die Wahl des Denkmals als Bildmotiv und seine Relevanz für die Menschen vor Ort meint Dobrucki: „It is unmovable. It has to stay…many people can relate to that.“ („Es ist unbeweglich. Es muss bleiben…viele Menschen können sich damit identifizieren“, übersetzt durch die Autorinnen). Vielleicht ist genau dies der Grund, weshalb diese Bilder einen so berühren, obwohl darauf keine Menschen zu sehen sind: Die starren Figuren harren ebenso wie die Bevölkerung der Ukraine auf das nicht erreichbar scheinende Ende eines brutalen Krieges, warten auf eine unbestimmte Zukunft.



Fotos von Konrad Dobrucki

Text von Gunilla Wallertz und Petra Zürcher

 

Konrad Dobrucki (er/ihm) ist 1991 in Polen geboren. Er hat einen Masterabschluss in Philosophie von der Universität Warschau und studiert Photographie an der Hochschule der Künste in Posen. Zudem war er 2020/2021 Absolvent des Sputnik Photos Mentoring Programme. In seiner auf analoge Methoden zurückgreifenden dokumentarischen Photographie beschreibt er die conditio humana durch das Prisma von Umgebung, Architektur und Gewohnheiten.

Gunilla Wallertz (sie/ihr) und Petra Zürcher (sie/ihr) studieren im Studiengang Osteuropastudien an den Universitäten Bern und Fribourg im Master beziehungsweise Bachelor. Sie haben sich intensiv mit der Ukraine auseinandergesetzt, sowohl historisch als auch in Bezug auf aktuelle Ereignisse.






Anmerkungen


¹ Es wird in diesem Essay auf den Begriff „Identität“ verzichtet, da dieser suggeriert, dass eine „Identität“ in Stein gemeisselt sei und klare Grenzen zu anderen Kollektiven bestünden. Wie das Beispiel der Ukraine zeigt, handelt es sich dabei allerdings um einen Prozess, denn Zugehörigkeit wird immer wieder neu verhandelt, Grenzen sind schwammig. Der Begriff „Identifikation“ widerspiegelt dies.


² Das Monument von Katharina II. in Odesa hat eine bewegte Geschichte und wurde nach wiederholten Protesten der Stadtbevölkerung im Dezember 2022 schliesslich demontiert.https://hrwf.eu/ukraine-the-monument-to-the-russian-empress-catherine-ii-in-odesa-dismantled/




Dokumentationen und Anleitungen auf der Website des Balbek-Architekturbüros: https://www.balbek.com/reukrainemonuments-eng

bottom of page