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SKIZZE EINER UNTERHALTUNG – JOËLLE BISCHOF

Dieser Text bezieht sich auf einen Vortrag von Dr. Klaus Mueller-Wille an der Universität Zürich, der sich wiederum auf Henri Focillons Aufsatz «Die Formen in der Materie» bezogen hat. Im Jahr 1933 hat Focillon fünf Kapitel verfasst, welche der Frage auf den Grund gehen, woraus Kunstwerke eigentlich entstehen. In nur sechs Wochen sei dieses Buch entstanden, woraufhin er feierlich erklärte, dass dieses nun alles beinhalte, was er als Kunsthistoriker jemals zu sagen habe. Zwar will Joëlle Bischof mit diesem Essay nicht einen ähnlichen Anspruch geltend machen, dennoch verknüpft sie darin einige Themen miteinander, die sie momentan mehr beschäftigen, als dass sie sich nicht dazu äussern wollen würde.



Das «X» diente während des Onlineunterrichts dazu, sich im Chat einer Videounterhaltung erkennbar zu zeigen, sodass die Wortmeldungen nicht in chaotischer Weise übereinander einbrechen. Die im folgenden Text kursiv eingefügten Zitate stammen aus solch einem Chatverlauf des Seminars «Reisen zu sich selbst. Subjekt- und Körpertechniken von den 70er Jahren bis heute» an der Universität Zürich. Sie sind unbearbeitet und chronologisch geordnet.



Ein Essay von Joëlle Dominique Maria Bischof, Zürich, 2021




Eine bestimmte Zahl repräsentierende Unbekannte in einer Gleichung, ein Eingliedern in ein, ein, ein, ein, ein, ein, ein und dasselbe. Eine Verbindung der beiden Konsonanten [k] und [s], also [ks]. Der Beispielextraktor weiter: X und Y fungieren hier abwechselnd als abhängige und unabhängige Variable.¹ Wenn sich diese beiden voll entfalten, ist «X» langsam trinkreif.² Dabei stammt die gute Idee wirklich sogar von uns und nicht etwa von X.³ Doch so wird der ursprüngliche X schliesslich der «bekannte X».⁴ Über jedem Punkt von X hat man die Situation (2).⁵



Was sind das für Formen, die vorgeben sich stets auf die gleiche Weise zu zeigen, die sich in ihrer Tarnung als Variable aber ständig neu formieren, sodass sie in ihrer Ursprünglichkeit um ein Vielfaches überlagert werden? Im Normalfall ist das Symbol «X» gleichbedeutend mit einer Unbekannten oder markiert wie beim Lottospielen durch Ankreuzen die Glückszahlen. Ob bei X-Beinen oder als Grussformel «XXX» werden dem 24. Buchstaben des modernen lateinischen Alphabets vielfache Bedeutungen zugeschrieben, die ich in diesem Essay ebenfalls in einem metaphorischen Sinne weitertragen werde.


10:38:30 Von Tamar P. an Alle : x


Ohne dass sich die einzelnen Unterbrüche weiter aufeinander beziehen müssen, können sie dennoch als Abfolge voneinander verstanden werden, durch die sich so etwas wie ein Gefühl für das Innen und Aussen eines Gesprächs abzeichnet.


10:39:06 Von philippc an Alle : x


Mit der Erkenntnis, dass sich die in ähnlicher Form ständig auftauchenden Dualismen nie vollends auflösen werden, ergründe ich diese im Rahmen einer Unterhaltung. Aufgrund von dessen Eckpfeilern aus, sich mein Formverständnis unentwegt weiterentwickelt und sich die Frage der Perspektive aufdrängt, je undefinierter die Orientierungspunkte sind.

10:45:00 Von Simon S. an Alle : x



Der Kunsthistoriker Henri Focillon spricht in «Leben der Formen» aus dem Jahr 1934 an einer Stelle davon, dass bereits die Skizze selbst als Bewegung eines Malers zu verstehen ist und einen Charakter der Entwicklung vorgibt, ohne dass die Skizze einfach als Vorstufe des fertigen Bildes oder im Nachhinein betrachtet, bloss als Entwurf in der Vergangenheit zu gelten hat.⁶

10:47:44 Von Tamar P. an Alle : x

Die Dynamik eines Gesprächs kann sich nur auf der Grundlage einer Wechselbeziehung entfalten und durch eine Veräusserung in Bewegung bleiben, wobei das Denken als Skizze betrachtet werden könnte.


10:51:30 Von Vera Z. an Alle : X

«So wirkt die Form nicht als ein höheres Prinzip, das eine passive Masse prägt, denn man darf sagen, dass die Materie ihre eigene Form der Form aufzwingt.»⁷ Wenn ich das Prinzip von Reibung nicht nur auf ein materielles Aufeinandertreffen anwende, sondern als ein Konzept sehe, das auf der Macht der Gegenseitigkeit aufbaut und einen permanenten Energieaustausch verlangt, so beispielsweise auch bereits der Bleistift und das Papier bei der Skizze des Malers eine Wirkung aufeinander und auf die Art des Skizzierens ausüben.

11:00:43 Von omideh S. J. an Alle : X

Die Wahrnehmung von Bewegung setzt aber die eigene Bewegung voraus: Mediale Reibungsfelder, die paradoxerweise erst zur Wahrnehmung von Bewegung durch das Erstarren ebendieser führen. Jeder Punkt von «X» ist an eine Situation und an ein Ereignis geknüpft, durch welches der Punkt als vorher, während oder nachher eingestuft werden kann, damit aber selbst an Kontur verliert. Daher gilt es eher die Bewegung in Abgrenzung zu einer anderen Bewegung wahrzunehmen und die Form in der Form zu entdecken. Ich möchte diese nicht einfach als eine in den Künsten umgesetzten Ausdruck von Innerlichkeit lesen, sondern mindestens genauso in umgekehrter Richtung deuten, nämlich das Schaffen als einen Umschalt-Moment, als eine Umwandlung von sich selbst verstehen: Diese Momente der Reflexion stellen einen Transfer dar, nicht etwa um zu einer Ursprünglichkeit des Handelns zurückzufinden, sondern um das Handeln im Prozess zu begreifen und eine Veränderung wahrzunehmen, ohne dabei in den Modus des sich-Erklärens zu verfallen, der das eigenen Handeln zu kurz fassen und in Form von «X» gegen Aussen stülpen würde.

11:03:53 Von Louis F. an Alle : x

«Und dies Mit-sich-selbst-Sprechen ist ja im Grunde das Denken.», meint Hannah Arendt in einem über den öffentlichen Rundfunk ausgetragenem Gespräch mit Joachim Fest aus dem Jahr 1964.⁸ Dieser Text stellt einen Versuch dar, mich in ein einen Diskurs zu verwickeln und dadurch mich selbst zu beobachten, um damit den Zusammenhang zwischen Reflexen, Emotionen, Affekten, Form und Formlosigkeit genauer zu begreifen. Stimmigkeit setzt sich aus gegensätzlichen Elementen zusammen, was nicht heisst, dass sie in sich stimmig sein muss. Wie im Wort selbst bereits eine Stimme zu erahnen ist, muss ich, damit ich zu dieser finden kann, um das Dasein von anderen wissen und es muss zu einem Austausch kommen, ansonsten könnte ich das Ich nicht vom Du unterscheiden und ein Identischsein nicht ausschliessen. Denken ist ein stummes Zwiegespräch.⁹


11:05:05 Von Simon S. an Alle : x

Ein stummes Zwiegespräch, das «von vornherein als Dialogisch-mit-sich-selbst-sein auf Andere bezogen ist.¹⁰ Gerade in der Veräusserung kann ich auf mich selbst zurückgeworfen werden und mich mit mir selbst konfrontieren oder mich in Abgrenzung zu einem Fremdkörper immer wieder neu kennenlernen.

11:13:30 Von Simon S. an Alle : x

Auch hier ein beinahe schon fixierender Blick, der mit gewissen Machteffekten verbunden ist: Jede Person befindet sich in ihrem eigenen Kasten: pro Seite maximal 16 Köpfe x ein Augenpaar, mit einer Kamerafunktion oder ohne. Eine weitere «Seh-Technologie», wie sie möglicherweise bei dem Konzept des sozialen Ordnungssystems von Michel Foucault hätte Einzug finden können. Auch wenn dieser Vergleich weit hergeholt ist, geht es mir um das Prinzip von Blicken, die sehen können, aber selbst nicht gesehen werden müssen. Dazu kommt das Mikrofon, das aus- oder eingeschaltet werden kann. Foucault beschreibt das Bild wie folgt: «Im vollkommenen Lager beruht Machtausübung auf einem System der genauen Überwachung; jeder Blick ist ein Element im Gesamtgetriebe der Macht.»¹¹ Und er führt eine solche Raumstruktur, wie sie in der Folge auch als Modell im Städtebau dienlich war, wie folgend weiter aus: «Der althergebrachte quadratische Plan wurde unzählige Male beträchtlich verfeinert: die Geometrie der Alleen, die Anzahl und Verteilung der Zelte, die Richtung ihrer Eingänge, die Anordnung der Reihen und Linien werden festgelegt; das Netz der einander kontrollierenden Blicke wird geknüpft.»¹² Auch wenn der Bezug zu Foucault weiter erläutert werden müsste, möchte ich diesen dennoch als Denkanstoss heranziehen, da ich daraus Parallelen zum virtuellen Aufeinandertreffen ableite, die durch eine bestimmte Technologie geformt werden und sich nur in einem medialen Wechsel zwischen Bild, Ton und Schrift begreifen lassen. Die strikte Einteilung von Raum beeinflusst die Art miteinander zu sprechen und gibt bestimmte Verhaltensweisen vor. Dabei kann sich die Sphäre des gemeinsam geteilten Bildes, respektive des Bildschirmes, auflösen oder in einen gemeinsam geteilten Online-Chat verlagern und dort einen neuen Ort des Austauschs darstellen.


11:35:04 Von anne-christinekatharina.s@uzh.ch an Alle : vielleicht eine Brücke zu nächster Woche


Als wichtig erachte ich hier aber vor allem die Worte, denen kein «X» vorausgeht, die dadurch zwar bisher kein Gehör gefunden, sich jedoch auch nicht in eine vorgegebene Form eingereiht haben.


11:42:05 Von Tamar P. an Alle : x






Literaturverzeichnis


1 «x», bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, URL: www.dwds.de/wb/x (zuletzt aufgerufen am 13.06.2021) 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Vgl. Henri Focillon: Das Leben der Formen. L.S.D, Göttingen, 1934, S. 58 7 Ebd., S. 51 8 Ludz, Ursula und Wild, Thomas (Hg.): Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest. Eine Rundfunksendung aus dem Jahr 1964. In: Zeitschrift für politisches Denken, Ausgabe 1, Band 3, Mai 2007. URL: http://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/114/194 (zuletzt aufgerufen am 13.06.2021) 9 Vgl. Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes I. Das Denken. Piper Verlag, München,1979, S.122f 10 Hannah Arendt: Denktagebuch 1950-1973. Piper Verlag, München, 2002, S. 283 11 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1976, S.221 12 Ebd.

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